Freitag, 13. September 2013

Dario Argento. Anatomie der Angst



Michael Flintrop, Marcus Stiglegger (Hrsg.): Dario Argento. Anatomie der Angst, Berlin 2013

Ganz still und heimlich ist in deutschen Landen etwas passiert, was niemand mehr für möglich gehalten hätte: nein, nicht die Abschaffung der staatlichen Zensur in Deutschland... Erstmals ist im deutschsprachigen Raum ein Buch von über 30 hervorragenden Filmwissenschaftlern und Filmkennern erschienen, das sich mit dem Werk von Dario Argento befasst, einem der einflussreichsten und ungewöhnlichsten Filmemacher Europas. Warum das so außergewöhnlich ist? Dr. Marcus Stiglegger bringt es auf den Punkt: Es sind die Vertreter der deutschsprachigen Filmwissenschaft, „die anders als im englischsprachigen Raum die Bedeutung von Genrevisionären wie Argento erfolgreich im wissenschaftlichen Diskurs marginalisieren... immer dieselben Beispiele als ,Klassiker‘ glorifizieren... und (somit) für die relative Resonanzlosigkeit der deutschsprachigen Filmforschung international“ verantwortlich sind. Aber es ist nicht nur die konservative deutsche Filmwissenschaft allein, sondern die unheilige Allianz dieser mit dem perfiden staatlichen Zensursystem, das es außergewöhnlichen Filmemachern, besonders aus dem Bereich des Horrorfilms, in Deutschland so schwer macht. Umso mehr muss man den Herausgebern Michael Flintrop und Marcus Stiglegger für dieses Buch danken, das ihnen schon seit Jahren am Herzen lag.

Marcus Stiglegger gibt in seinem einführenden Aufsatz eine kenntnisreiche Einführung in das Gesamtwerk Dario Argentos. Er präsentiert einen Überblick über die unterschiedlichen Schaffensphasen des italienischen Regisseurs, dessen Kino er als „performatives Kino der Sensation“ definiert. „Sensation, da es mit Bild und Ton direkt an die Sinne des Publikums appelliert, und performativ, da es sich über narrative Logik hinwegsetzt und Bild und Klang sich verselbstständigen lässt, um diesen Angriff auf die Sinne zu garantieren.“ Besser kann man das Wesen der meisten Filme von Argento nicht beschreiben. Stiglegger fasst in seinem Beitrag weiter die für Argento typischen Stilmittel (entfesselte Kamera, suggestive Montage, irritierende Klangwelt etc.) und Motive (unschuldig involvierter Protagonist, traumatisierte Täter, Tiere, Okkultismen etc.) zusammen. Was Stiglegger zum Teil nur andeutet und beschreibt, wird in vielen der folgenden thematischen Aufsätze weiter vertieft. Allein zwei Beiträge (Dominik Graf, Marc Fehse) beschäftigen sich ausführlich mit der Musik in den Filmen Argentos. Andere Autoren untersuchen den für viele Filmarbeiten Argentos obsessiven Einsatz von Gemälden und anderen Kunstobjekten (Joanna Barck) oder analysieren die Bedeutung des (unheimlichen) Raumes in Filmen wie „Suspiria“, „Profondo Rosso“, „Tenebre“ etc. (Johannes Binotto). Jörg von Brincken betrachtet „Dario Argentos Filme im Spiegel des Grand Guignol“ und stellt besonders die innige Verbindung zwischen dem Grand-Guignol-Theater und den Filmen Argentos bzw. dem Gore-Genre als Ganzes heraus. Heiko Nemitz fragt sich in seinem Beitrag, was Dario Argento und Brian de Palma verbindet und trennt. Einen ähnlichen Ansatz hat Ingo Knott, der Dario Argento und Mario Bava vergleicht. Dabei interessiert ihn besonders, ob Argento wirklich eine Art „Bava-Jünger“ ist. Eine Aussage, mit der Dario Argento immer wieder konfrontiert wird, die er aber ebenso häufig von sich weist. Etwas mehr als die Halfte des Buches besteht aus solchen und ähnlichen Themenaufsätzen. Hervorzuheben ist hier noch, besonders für die Münchner Fans des Films „Suspiria“, der Beitrag von Sebastian Selig: „Zur Escherstraße. Eine Reise zu den Drehorten von Suspiria (1977).“ Dieser Beitrag ist auch in der Ausgabe 95 der Zeitschrift „Splatting Image“ abgedruckt. Der zweite, etwas weniger umfangreiche Teil des Buches besteht aus in der Regel vierseitigen Filmbesprechungen. 23 Werke Argentos werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln von verschiedenen Autoren besprochen. Das Buch „Dario Argento. Anatomie der Angst“ gibt einen Überblick über Filme und Facetten des italienischen Regisseurs von „Giallo“-Thrillern und Horrorfilmen und ist von enzyklopädischem Wert. Es wurde, um mit den Worten von Marcus Stiglegger zu schließen, „reich und liebevoll gestaltet, als wäre es das letzte seiner Art“. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Dienstag, 3. September 2013

Unheimliche Geschichten

Unheimliche Geschichten (Deutschland 1919, Regie: Richard Oswald)

Kritik: Der Episodenfilm „Unheimliche Geschichten“ aus dem Jahr 1919 kann als einer der ersten Gruselfilme der Filmgeschichte angesehen werden. Das war auch der Tenor zeitgenössischer Kritiker. Die „Licht-Bühne“ (Nr. 46, 15. November 1919) schrieb sechs Tage nach der Premiere: „Richard Oswald … hat nun den Film des Unheimlichen geschaffen.“ Im „Berliner Tageblatt“ vom 8. November 1919 war zu lesen: „Zum ersten Mal ist hier eine Reihe von Filmeinaktern geboten, die auf einen ganz bestimmten Ton, den des Unheimlichen, gestimmt sind.“

Richard Oswalds „Unheimliche Geschichten“ besteht aus fünf Episoden plus Rahmenhandlung. In einem Buchantiquariat steigen um Mitternacht der Tod, der Teufel und eine Dirne von den Wänden, wo sie eingerahmt als Bilder hingen, und erzählen sich gegenseitig Gruselgeschichten. Conrad Veidt (der Tod), Reinhold Schünzel (der Teufel) und Anita Berber (Dirne) spielen auch in diesen fünf Geschichten die Hauptrollen. Erzählungen bekannter Autoren wie u. a. Robert Louis Stevenson oder Edgar Allan Poe dienten als Vorlage. Besonders die Episode „Die schwarze Katze“ nach Edgar Allan Poe dürfte dem Freund des gepflegten Grusels bekannt vorkommen, wurde sie doch schon etliche Male verfilmt. Hier zeigt Reinhold Schünzel als betrunkener Ehemann, der seine Frau im Keller einmauert, eine herausrag (Foto: Reinhold Schünzel mit Anita Berber in „Die schwarze Katze“).
 
In „Die Erscheinung“ geht es um eine Frau, die in ein Hotel eincheckt und über Nacht verschwindet. „Die Hand“ handelt von der Hand eines Ermordeten, die den Täter noch aus dem Jenseits verfolgt. „Der Selbstmörder-Klub“ erzählt die Geschichte eines Polizeikommissars, der in einen Geheimbund gerät und plötzlich um sein Leben fürchten muss. In „Der Spuk“ vertreibt ein eifersüchtiger Ehemann seinen Nebenbuhler auf gruselige Art und Weise. Conrad Veidt, bekannt als Somnambuler Cesare aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), kann in „Unheimliche Geschichten“ noch mehr Facetten seines Könnens zeigen als in dem Horrorfilmklassiker von Robert Wiene. Ein wahrhaft charismatischer Schauspieler, der hohlwangig und hochgewachsen, mit seiner Mimik, Ausstrahlung und einmaligen Leinwandpräsenz auch heute noch jeden Film bereichern würde. Mal hat er mich an Udo Kier erinnert, dann wieder an Julian Sands und andere Hollywoodgrößen. Skandalnudel und (Nackt-)Tänzerin Anita Berber komplettiert das wunderbar aufspielende Trio und kann in einer Episode („Die Hand“) sogar ihr tänzerisches Talent aufblitzen lassen. Es war ein großer Verlust, dass sie, durch ein ruheloses, „unmoralisches“ Leben und Drogenkonsum geschwächt, schon neun Jahre später (1928) mit nur 29 Jahren an Tuberkulose starb.

Das Zusammenspiel der drei erwähnten Schauspieler ist meisterhaft und trägt wesentlich zur Qualität der „Unheimlichen Geschichten“ bei. Daneben ist es die gekonnte Inszenierung durch Richard Oswald und der sparsame Einsatz der Texttafeln, die diesen frühen Gruselfilm auszeichnen. Besonders die wenigen Zwischentitel und die Kürze der Episoden (Gesamtdauer: 99 Minuten) macht „Unheimliche Geschichten“ auch für Stummfilm-Einsteiger interessant und leicht konsumierbar. Der Gruselfaktor hält sich für den heutigen Betrachter allerdings in Grenzen, hier kommt Richard Oswalds Episodenfilm nicht an die Klassiker von Robert Wiene („Das Cabinet des Dr. Caligari“) und Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“, 1922) heran. „Unheimliche Geschichten“ ist in der Reihe „Juwelen der Filmgeschichte“ erschienen, und das zu Recht. Seine filmhistorische Bedeutung liegt darin, dass er in Ansätzen ein frühes Beispiel für den expressionistischen Gruselfilm darstellt, der nach dem Ersten Weltkrieg, besonders mit „Das Cabinet des Dr. Caligari“, den Weltruf des deutschen Kinos begründete.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: tanzende Anita Berber // Teufel, Tod und Dirne

Bewertung: (7/10)

Sonntag, 1. September 2013

Der Rattengott


Der Rattengott (OT: Izbavitelj, Jugoslawien 1976, Regie: Krsto Papic)

Kritik: Im Jahr 1982 hatte ich den Ostblock-Horrorfilm „Der Rattengott“ zum ersten Mal gesehen, und zwar im ZDF im Rahmen der von mir so geliebten Reihe „Der phantastische Film“. Der Film, der nach einer Vorlage des russischen Schriftstellers Alexander Grin („Der Rattenfänger“) entstanden ist, hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, einige Bilder haben sich meinem Gedächtnis nahezu eingebrannt. Zum Beispiel die Rattenmenschen mit ihren teils deutlich sichtbaren, teils angedeuteten Nagezähnen (die aussehen wie die Zähne Nosferatus in Murnaus gleichnamigem Stummfilmklassiker), ihren behaarten und spitzen Gesichtern. Oder das Fest der Rattenmenschen in der verlassenen Zentralbank, das von Fress-, Tanz- und Sexorgien geprägt ist. Es ist unbestritten, dass „Der Rattengott“ eine Parabel auf den Faschismus ist, „eine Metapher für die nationalsozialistische Unterwanderung einer wirtschaftlich geschwächten Gesellschaft“ (Marcus Stiglegger). Dennoch überrascht es, dass dieser Film anscheinend problemlos die Hürden der kommunistischen Zensur genommen hat. Denn jede Kritik am Faschismus war/ist ja gleichzeitig eine Kritik an jeder Diktatur mit Heilsversprechen und Exklusivitätsanspruch. Und Diktaturen mit Heilsversprechen und Exklusivitätsanspruch waren schließlich auch die zeitgenössischen kommunistischen Herrschaftssysteme. Wir haben es also einem „guten“ Tag der Zensoren zu verdanken, dass uns dieses Filmjuwel erhalten geblieben ist. Und wohl auch der Tatsache, dass der jugoslawische Kommunismus zu dieser Zeit nicht ganz so dogmatisch daherkam wie der sowjetische. Besonders im Bereich der Kunst.

Der Film spielt in der Tschechei 1925. Nach dem Ersten Weltkrieg befindet sich die Welt in einer Wirtschaftskrise. Anhand der Person Ivan Gajski (Ivica Vidovic) zeigt der Film die Auswirkungen dieser Krise. Jobs gibt es keine, und so verliert der erfolglose Schriftsteller, der ein wenig an den jungen Roman Polanski erinnert, seine Wohnung, weil er seit drei Monaten die Miete nicht mehr bezahlt hat. Auf dem Flohmarkt will er seine letzten drei Bücher verkaufen und lernt dabei Sonja kennen, die hübsche Tochter von Professor Boskovic, die er aber zunächst wieder aus den Augen verliert. Sein Nachtquartier nimmt sich Ivan in einer verlassenen und verriegelten Zentralbank, in die er einbricht. Dort wird er Zeuge einer opulenten Orgie der feinen und reichen Gesellschaft. So scheint es zumindest. Später stellt sich heraus, dass die Gestalten nur den Anschein erwecken, Menschen zu sein. In Wirklichkeit sind es Ratten, die die Fähigkeit haben, sich in Menschen zu verwandeln und die ihnen hörigen Menschen in Mischwesen. Erklärtes Ziel ist es, geführt von einem Rattengott, die Weltherrschaft zu erlangen. Ivan nimmt Kontakt mit Sonja auf und erfährt so, dass ihr Vater, Professor Boskovic, das Geheimnis der Ratten entdeckt hat und dabei ist, ein Anti-Ratten-Spray zu entwickeln. Zusammen mit Ivan will er den Ratten nun Einhalt gebieten. Doch sowohl Stadtverwaltung als auch Gesellschaft sind schon von Rattenmenschen unterwandert. Wem kann man noch vertrauen?

Der spannende Film hat eine klare Symbolik und Sprache. In der unter anderem aus Vogelperspektive gefilmten Orgie der Rattenmenschen sieht man die Anordnung der Festtische, die grafisch die Hälfte eines Hakenkreuzes darstellen (Foto).

Der Rattengott wird als charismatischer Führer gezeigt, und die Hoffnung von Professor Boskovic und Ivan beruht darauf, dass der „faschistische“ Spuk vorbei sein wird, wenn es gelingt, den Rattengott zu töten. Das Thema der heimlichen Unterwanderung der Gesellschaft durch „Andere“ erinnert an viele amerikanische B-Movies aus den 50er-Jahren. Unter anderem fallen sofort Parallelen zu Don Siegels „Die Dämonischen“ aus dem Jahr 1956 auf: zum Beispiel, als die Masse der Rattenmenschen den noch nicht transformierten Ivan Gajski entdeckt und hinter ihm herstürzt. Auch an John Carpenters „Sie leben!“ (1989) wird man erinnert, als Ivan das Rattengift auf den Straßen verteilt und durch die „enttarnten“ Rattenmenschen dann sichtbar wird, wer Mensch ist und wer nicht. Im Grunde hat der Film Ähnlichkeit mit all den fantastischen Kalter-Krieg-Filmen, die in ihren Subtexten nichts anderes verhandeln als die Angst vor heimlicher (kommunistischer) Unterwanderung und Gleichmacherei. „Der Rattengott“ gehört zum sogenannten Transformationshorror (Gestaltwandlerfilme). Was ihn filmgeschichtlich besonders interessant macht, ist die hier andere „Stoßrichtung“ der Verwandlung. Nicht ein Mensch verwandelt sich in eine Bestie, wie zum Beispiel in allen Werwolf-Varianten oder in den „Katzenmenschen“-Filmen etc., sondern die Bestie, die Ratte, verwandelt sich in einen Menschen. Auch in den eher naturalistischeren Szenen weiß der Film Atmosphäre zu kreieren. Die Ratten werden nicht als weiße Kuscheltiere gezeigt, sondern so, wie sie sind und den Menschen seit Jahrhunderten schon immer Angst eingejagt haben: als dicke, graubraune Nager mit schmalen, bedrohlich wirkenden Augen. Es sind dieser Art atmosphärische Bilder und das glaubwürdige Setting (Tschechei, 20er-Jahre), die den Film zu einem besonderen Filmerlebnis machen. Der Film ist in einem wie ich finde wunderbar gestalteten, auf 500 Stück limitierten Mediabook als DVD erschienen. Es enthält ein Booklet mit einem kurzen Aufsatz von Filmkenner Marcus Stiglegger mit dem Titel „Transformationshorror als politische Metapher in Der Rattengott“.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Gesichter der Rattenmenschen // Fest der Rattenmenschen

Bewertung: (8/10)