Dienstag, 3. September 2013

Unheimliche Geschichten

Unheimliche Geschichten (Deutschland 1919, Regie: Richard Oswald)

Kritik: Der Episodenfilm „Unheimliche Geschichten“ aus dem Jahr 1919 kann als einer der ersten Gruselfilme der Filmgeschichte angesehen werden. Das war auch der Tenor zeitgenössischer Kritiker. Die „Licht-Bühne“ (Nr. 46, 15. November 1919) schrieb sechs Tage nach der Premiere: „Richard Oswald … hat nun den Film des Unheimlichen geschaffen.“ Im „Berliner Tageblatt“ vom 8. November 1919 war zu lesen: „Zum ersten Mal ist hier eine Reihe von Filmeinaktern geboten, die auf einen ganz bestimmten Ton, den des Unheimlichen, gestimmt sind.“

Richard Oswalds „Unheimliche Geschichten“ besteht aus fünf Episoden plus Rahmenhandlung. In einem Buchantiquariat steigen um Mitternacht der Tod, der Teufel und eine Dirne von den Wänden, wo sie eingerahmt als Bilder hingen, und erzählen sich gegenseitig Gruselgeschichten. Conrad Veidt (der Tod), Reinhold Schünzel (der Teufel) und Anita Berber (Dirne) spielen auch in diesen fünf Geschichten die Hauptrollen. Erzählungen bekannter Autoren wie u. a. Robert Louis Stevenson oder Edgar Allan Poe dienten als Vorlage. Besonders die Episode „Die schwarze Katze“ nach Edgar Allan Poe dürfte dem Freund des gepflegten Grusels bekannt vorkommen, wurde sie doch schon etliche Male verfilmt. Hier zeigt Reinhold Schünzel als betrunkener Ehemann, der seine Frau im Keller einmauert, eine herausrag (Foto: Reinhold Schünzel mit Anita Berber in „Die schwarze Katze“).
 
In „Die Erscheinung“ geht es um eine Frau, die in ein Hotel eincheckt und über Nacht verschwindet. „Die Hand“ handelt von der Hand eines Ermordeten, die den Täter noch aus dem Jenseits verfolgt. „Der Selbstmörder-Klub“ erzählt die Geschichte eines Polizeikommissars, der in einen Geheimbund gerät und plötzlich um sein Leben fürchten muss. In „Der Spuk“ vertreibt ein eifersüchtiger Ehemann seinen Nebenbuhler auf gruselige Art und Weise. Conrad Veidt, bekannt als Somnambuler Cesare aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), kann in „Unheimliche Geschichten“ noch mehr Facetten seines Könnens zeigen als in dem Horrorfilmklassiker von Robert Wiene. Ein wahrhaft charismatischer Schauspieler, der hohlwangig und hochgewachsen, mit seiner Mimik, Ausstrahlung und einmaligen Leinwandpräsenz auch heute noch jeden Film bereichern würde. Mal hat er mich an Udo Kier erinnert, dann wieder an Julian Sands und andere Hollywoodgrößen. Skandalnudel und (Nackt-)Tänzerin Anita Berber komplettiert das wunderbar aufspielende Trio und kann in einer Episode („Die Hand“) sogar ihr tänzerisches Talent aufblitzen lassen. Es war ein großer Verlust, dass sie, durch ein ruheloses, „unmoralisches“ Leben und Drogenkonsum geschwächt, schon neun Jahre später (1928) mit nur 29 Jahren an Tuberkulose starb.

Das Zusammenspiel der drei erwähnten Schauspieler ist meisterhaft und trägt wesentlich zur Qualität der „Unheimlichen Geschichten“ bei. Daneben ist es die gekonnte Inszenierung durch Richard Oswald und der sparsame Einsatz der Texttafeln, die diesen frühen Gruselfilm auszeichnen. Besonders die wenigen Zwischentitel und die Kürze der Episoden (Gesamtdauer: 99 Minuten) macht „Unheimliche Geschichten“ auch für Stummfilm-Einsteiger interessant und leicht konsumierbar. Der Gruselfaktor hält sich für den heutigen Betrachter allerdings in Grenzen, hier kommt Richard Oswalds Episodenfilm nicht an die Klassiker von Robert Wiene („Das Cabinet des Dr. Caligari“) und Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“, 1922) heran. „Unheimliche Geschichten“ ist in der Reihe „Juwelen der Filmgeschichte“ erschienen, und das zu Recht. Seine filmhistorische Bedeutung liegt darin, dass er in Ansätzen ein frühes Beispiel für den expressionistischen Gruselfilm darstellt, der nach dem Ersten Weltkrieg, besonders mit „Das Cabinet des Dr. Caligari“, den Weltruf des deutschen Kinos begründete.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: tanzende Anita Berber // Teufel, Tod und Dirne

Bewertung: (7/10)