Mittwoch, 29. Oktober 2014

Die junge Iris Berben als Außerirdische


„Supergirl – Das Mädchen von den Sternen“ (Deutschland 1971, Regie: Rudolf Thome)

Kritik: Da wird der Fan hellhörig: ein deutscher Film, ein später Neuer Deutscher Film, aus dem Jahr 1971 mit Iris Berben als Außerirdische, die die Welt vor einer Invasion von ihrem Heimatplaneten, dem 3. Planeten aus der Galaxie Alpha Centauri, warnen will. Doch ihr Raumschiff, eigentlich auf dem Weg nach Washington, stürzt ab. Über Deutschland, genauer: in der Nähe von München. Und sie ist die scheinbar einzige Überlebende, die nun versucht, irgendwie nach Washington zu kommen. An einer Hauptstraße steigt sie in das Auto eines Münchner Playboys. Sie macht mit der Münchner Literatenszene Bekanntschaft, lernt den Erfolgsautor Paul Evers (Marquard Blom, wunderbar!) kennen und einen amerikanischen Filmproduzenten. Der hat einen Bekannten mit Kontakten zum Weißen Haus in Washington. Diese Connection klingt für unsere Außerirdische vielversprechend. Ihre Hoffnung zerplatzt aber wie eine Seifenblase, denn natürlich glaubt ihr keiner. Und, so viel sei vorweggenommen, es gelingt ihr am Ende natürlich nicht, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu treffen, und es gelingt ihr nicht einmal, sich aus dem Dunstkreis der Münchner Schickeria zu entfernen. Sie verschwindet so unvermittelt und leise, wie sie erschienen ist. Der Zuschauer bleibt mit einem großen Fragezeichen zurück. Eigentlich ein klassischer phantastischer Film im Sinne der Todorovschen Definition von Phantastik. Was war es nun? Übersinnlich oder doch rational erklärbar?

Regisseur Rudolf Thome soll nach der Fernsehausstrahlung viele böse Anrufe bekommen haben von Zuschauern, die sich von ihm verschaukelt, wahrscheinlich um einen spannenden Außerirdischen-Film betrogen gefühlt haben. Und in der Tat ignoriert Thome von Anfang an auf nahezu provozierende Weise sowohl das phantastische Sujet als auch, ganz im Sinne einer der Prämissen des Neuen Deutschen Films, das Gebot der inszenatorischen und dramaturgischen Perfektion. Sein Film lebt von den Charakteren (allen voran Marquard Blom), Dialogen und Situationen. Narration und Handlung interessieren den Regisseur nur marginal (ebenso wie in seinen Filmen „Detektive“, 1968, und „Rote Sonne“, 1970). Alles wirkt irgendwie improvisiert und fehlerbehaftet. Eine durchdachte Mise-en-scene findet nicht statt, auffallend häufig agieren die Darsteller mit dem Rücken zur Kamera, „Fehler“ bleiben ungeschnitten (Blom stößt beim Verlassen eines Zimmers gegen die Tür, ein Glas auf dem Tisch steht an der falschen Stelle etc.). 

Marquard Blom spielt in seinem weißen Anzug, den er fast den ganzen Film über trägt, sichtlich unsicher, und wenn er sich quasi permanent an Alkohol und Zigaretten festhält, dann schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe: seine offensichtliche Unsicherheit wandelt sich etwas ins Coole, und durch seine Unperfektion und Authentizität entsteht beim Betrachter ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Ähnliches trifft für alle Darsteller und die ganze Inszenierung zu. Hier bewahrheitet sich eine Aussage des leider viel zu früh verstorbenen Filmkritikers Michael Althen, der im Rahmen einer Besprechung (eines ganz anderen Films) formulierte: „Das Schöne am Kino ist, dass manchmal schon die Art, wie jemand an seiner Zigarette zieht, genügt, um sich in einen Film zu verlieben. Oder wie einer einen Anzug trägt.“ Wer das nicht glaubt, sollte sich „Supergirl“ allein schon deswegen anschauen, um dazuzulernen. Überhaupt scheint Marquard Blom, wie in vielen seiner Filme, in anderen Sphären zu schweben, ein Bewohner des Planeten Sauf-und-Rauch, den das alles gar nicht wirklich betrifft. Ob die Kamera nun läuft oder nicht, ich rauche und saufe trotzdem. Rudolf Thome selbst sagt, dass Blom während der Dreharbeiten kaum zu disziplinieren war. Es ist das Verdienst von Bloms Schauspielkunst und Ausstrahlung, dass man als Zuschauer diesen großartigen Typen trotzdem nicht aus den Augen lassen mag, ihn ständig beobachtet und – auch nicht müde wird, es zu tun, selbst nach 90 Minuten noch nicht.

Die junge Iris Berben spielt in erster Linie sich selbst. Ein außerirdisch gut aussehendes super Girl. Aber das außerirdische Supergirl nimmt man ihr nicht ab. Vom Regisseur offenbar wenig angeleitet, spielt sie ständig gelangweilt an ihren Haaren herum, nicht so oft wie Blom an der Zigarette, aber dennoch: Eine extraterrestrische Weltenretterin verhält sich anders. Alles wirkt irgendwie unausgegoren und undurchdacht. Die Außerirdische kennt sich in der Kolonialgeschichte der Erde aus, beherrscht die Sprache perfekt, weiß wo Washington und Moskau liegen, aber muss erst Tanzen lernen. Und die Wellen am Meer bringen sie beinahe völlig aus der Fassung vor Begeisterung. Ihre stärkste Szene hat sie am Anfang des Films in einer langen Einstellung: In einen orangefarbenen Overall gekleidet (mit nichts drunter, wie wir erst erfahren und dann sehen dürfen, ja, Iris Berben zieht fast ganz blank in „Supergirl“), erst nur als Punkt am Horizont zu erkennen, geht sie langsam auf die Kamera zu und an ihr vorbei. Ihr staksiger Gang hat dabei in der Tat etwas Fremdartiges.

„Supergirl“ ist kein wirklich gelungener Alien-Film, obwohl er von der Story her das Zeug dazu gehabt hätte und es auch einige phantastische Aspekte gibt: die Nachricht von einer Ufo-Sichtung, die Verfolger und Kontaktpersonen vom fremden Planeten, die sich anscheinend in Luft auflösen können etc. Letztendlich ist „Supergirl“ ein Spätwerk des Neuen Deutschen Films (Rainer Werner Fassbinder hat einen Cameo-Auftritt), das Zeitgeist und Schickeria-Leben im München Anfang der 70er-Jahre widerspiegelt. Eine Zeit, in der, zumindest in gewissen Kreisen, offenbar permanent geraucht und gesoffen wurde. Der Film war übrigens praktisch schon im Verleih und an 200 Kinos vermietet. Doch dann las sich irgendwer doch noch einmal das Drehbuch durch, und es war vorbei mit dem Kinostart. Zu wenig phantastische Aspekte, viel zu normal. Später, als Thome eine Anfrage vom WDR bekam, einen Spielfilm zu drehen, erinnerte sich der Regisseur an das Drehbuch und kurbelte ihn zügig herunter. Das merkt man dem Film an, auch eine zeitweise Uninspiriertheit von Regisseur und Schauspielern (was wäre da alles möglich gewesen!), dennoch kann man sich dem Werk nicht entziehen, ihm eine gewisse Faszination nicht absprechen.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Iris Berben im Overall, Iris Berben nackt, Marquardt Blom im weißen Anzug, Zigaretten, Alkohol, amerikanische Autos

Bewertung: 6/10


Mittwoch, 30. Juli 2014

Optisch beeindruckendes Fantasy-Spektakel im Märchenkostüm


Maleficent – Die dunkle Fee (OT: Maleficent, USA 2014, Regie: Robert Stromberg)

Kritik: „Dornröschen“ aus Sicht der bösen Fee, das ist wohl die am häufigsten verwendete Formulierung, die man im Zusammenhang mit diesem Film lesen kann. Aber „Maleficent“ ist mehr, ist ein eigenständiges Fantasyabenteuer nach Motiven des Märchens „Dornröschen“, das sich inhaltlich am Walt-Disney-Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1959 orientiert.

Zwei Reiche existieren nebeneinander, das Reich der Wälder und Moore mit Feen und Zauberwesen auf der einen Seite, das Königreich der Menschen auf der anderen Seite. Als junges Mädchen lernt die Fee Maleficent den Jungen Stefan aus dem Reich der Menschen kennen und freundet sich mit ihm an. Jahre später hat sich die Situation geändert. Der König des Menschenreiches will das Land der Moore mit seinen Schätzen erobern, es kommt zum Krieg. Der König und seine Armee werden an der Grenze von den Zauberwesen unter Führung Maleficents vernichtend geschlagen. Der König muss sich zurückziehen und verspricht kurz vor seinem Tod demjenigen den Thron, dem es gelingt, Maleficent zu töten. Der ehrgeizige Stefan trifft sich mit Maleficent unter dem Vorwand, sie zu warnen. Er betäubt sie jedoch mit einem Trank und will sie töten. Das schafft er zwar nicht, zu groß sind die Skrupel, doch er schneidet ihr die Feenflügel ab und geht damit zum König, woraufhin er zum neuen König gekrönt wird. Die verbitterte und kaltherzig gewordene Maleficent rächt sich später, indem sie Aurora, das erstgeborene Kind von König Stefan und seiner Gemahlin, verflucht. An ihrem 16. Geburtstag solle die sich an einer Spindel stechen und in einen immerwährenden todesähnlichen Schlaf fallen. Keine Kraft der Welt könne diesen Fluch rückgängig machen, nur der Kuss der wahren Liebe, an deren Existenz Maleficent nach dem Verrat Stefans aber nicht mehr glaubt...

Robert Stromberg verlässt sich in seinem Regiedebüt zuallererst auf seine ursprünglichen Stärken. Als Szenenbildner hat er bereits zwei Oscars gewonnen, einen für „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ (2009) und einen weiteren für „Alice im Wunderland“ (2010). Er punktet auch in „Maleficent“ mit seinen visuellen Angeboten und zieht den Zuschauer mit überwältigenden, einmalig schönen Bildern von Anfang an in seinen Bann: Er zeigt uns Landschaften wie in „Avatar“, Schlachten wie in „Der Herr der Ringe“ und Zaubertricks wie in den „Harry Potter“-Filmen. Doch das ist es nicht allein, was „Maleficent“ zu einem einzigartigen Filmerlebnis macht. Auch die Schauspieler, hier vor allem die weiblichen, sind durchgehend zauberhaft. Schon Ella Purnell in ihrem kurzen Auftritt als junge, unschuldige Maleficent ist ein faszinierender Anblick, ebenso Elle Fanning als „Dornröschen“ Aurora. Über allem steht jedoch die Leistung von Angelina Jolie als erwachsene Maleficent. Ihr Aussehen (Kompliment an die Maske), ihre Ausstrahlungskraft und die absolut glaubhaft gespielte Gefühlspalette, die von Erschrecken über Hass und Kampfgeist bis hin zu Liebe und Güte reicht, tragen den Film über weite Strecken. Jolie ist eigentlich die einzige Figur, die nicht eindimensional angelegt ist, die eine psychologische Entwicklung durchmacht. Und das gibt ihr die Möglichkeit, Facetten ihrer Schauspielkunst zu zeigen. Sie überzeugt sowohl als streng den Zauberstab schwingende, von Rachegefühlen beherrschte Feendomina als auch als ihr „Ziehkind“ Aurora beim Aufwachsen zusehende liebevolle „Mutter“. Besonders gelungen sind die Szenen, in denen ihre Figur innerlich zerrissen scheint zwischen den Extremen Hass und Liebe. Chapeau!

Was man an „Maleficent“ kritisiert hat, ist die moralische Schwarz-Weiß-Malerei, besonders symbolisiert durch das moderne, „feminine“ Ende. Alles Gute ist weiblich oder geht vom Weiblichen aus, alles Böse ist männlich oder geht vom Männlichen aus. Hier gestehe man dem Film jedoch die Trumpfkarte „Märchen“ zu. Klassisches Strukturmerkmal des Volksmärchens war schon immer eine klare Gut-Böse-Abgrenzung und eine gewisse Eindimensionalität der Figuren. Wer in „Maleficent“ eine tiefergehende, männerfeindliche ideologische Botschaft sehen will, schießt vielleicht etwas übers Ziel hinaus. Ja, der Film ist ein moralisches Lehrstück in Blockbusterformat, er hat eine moralische Botschaft. Doch die handelt nicht von Geschlechterrollen, sondern von der wahren Liebe, der Überwindung von negativen Gefühlen wie Hass und Rachegelüsten und davon, dass man sich Flüche und Handlungen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind, vorher sehr gut überlegen sollte...

„Maleficent“ ist ein bildgewaltiges Fantasy-Spektakel im Märchenkostüm mit Klassiker-Potenzial. Es glänzt durch Schauspielerleistungen auf hohem Niveau, tolle Animationen, faszinierendes Produktionsdesign sowie eine spannend erzählte, allerdings gegen Ende nicht ganz unvorhersehbare Story. Optisch spielt „Maleficent“ in einer Liga mit „Avatar“, „Der Herr der Ringe“ und „Harry Potter“ und gehört zum Besten, was das Fantasygenre je hervorgebracht hat.

Bewertung: (7/10)


Sonntag, 27. Juli 2014

Der unheimliche Gast


Der unheimliche Gast (OT: The Uninvited, USA 1944, Regie: Lewis Allen, SW)

Kritik: Für Regie-Ass und Horrorfilm-Produzent Guillermo del Toro (u.a. „The Devil's Backbone“, 2001, „Pans Labyrinth“, 2006) zählt „Der unheimliche Gast“ zu den Filmen, die ihn am stärksten erschreckt haben. Und auch Martin Scorsese führt den Film in seiner Liste der „11 Scariest Horror Movies Of All Time“. Im Film „Poltergeist“ (1982) findet sich mit dem Zitat „Mmh, smell the Mimosa“ eine direkte Anspielung auf den Vorläufer. Diese Fakten allein, die Frank Arnold im beiliegenden Booklet zusammengetragen hat, verweisen schon auf die filmhistorische Bedeutung und den in Kennerkreisen hohen Bekanntheitsgrad des Films.

In „Der unheimliche Gast“ geht es um ein Geschwisterpaar, das ein altes Haus an der englischen Küste erwirbt. Schnell stellt sich heraus, dass es in dem alten Gemäuer spukt. Der geisterhafte Horror, der sich allmählich entspinnt, ist eng mit der Geschichte der Enkelin des Vorbesitzers verbunden, die Kontakt zu den neuen Besitzern des Hauses aufnimmt. Thema, Dramaturgie und Erzählweise von „Der unheimliche Gast“ bilden quasi das Grundmodell, an dem sich alle späteren Haunted-House-Filme (Geisterhausfilm, Spukhausfilm) mehr oder weniger orientierten. Ganz langsam steigert sich die düstere Atmosphäre. Am Anfang ist es ein Hund, der sich weigert, in die oberen Stockwerke des Hauses zu gehen, dann sind es Seiten eines Buches, die sich wie von Geisterhand umblättern, und Türen, die sich von selbst bewegen. Fremdartige Geräusche und Geisterstimmen in der Nacht fehlen nicht, und gruselige Höhepunkte sind die Szenen, in denen sich die Geister aus einem plötzlich aufkommenden Nebel heraus materialisieren und für die Protagonisten und den Zuschauer sichtbar und bedrohlich werden. Diese Sequenzen wurden in Großbritannien übrigens von der Zensur entfernt, weil man glaubte, sie seien für den Zuschauer zu angsteinflößend. In der Tat galt in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs nahezu ein Horrorfilmverbot. Zu nah und real waren die alltäglichen Schrecken des Krieges.

Die hervorragende Schwarz-Weiß-Fotografie des Kameramanns Charles Lang brachte dem Film sogar eine Oscarnominierung in der Kategorie „Beste Kamera in einem Schwarz-Weiß-Film“ ein. Langs gekonnter Umgang mit Licht und Schatten gibt dem Film eine zeitweise besonders düstere Stimmung und dürfte auch der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass „Der unheimliche Gast“ in die Reihe „Film Noir“ aufgenommen wurde. Das war nicht unbedingt zu erwarten und vermarkterisch vielleicht auch nicht ganz klug, denn Film Noir definiert sich für viele nicht nur filmästhetisch und stilistisch, sondern auch thematisch. Unter einem Film Noir stellt sich die große Mehrheit eben immer noch einen Film vor, in dem es um die Aufklärung eines Kriminalfalls geht, in dem ein abgehalfterter Privatdetektiv einen Auftrag von einer meist sehr schönen und geheimnisvollen Femme fatale erhält etc. Vorstellbar, dass Fans des phantastischen Films, denen der Titel „Der unheimliche Gast“ bzw. „The Uninvited“ nichts sagt, bei Film Noir einfach weitergehen/weiterklicken und so einen Film verpassen, der ihnen eigentlich zugesagt hätte.

„Der unheimliche Gast“ ist ein atmosphärisch dichter Grusler mit einigen wenigen humoristischen Elementen. Dem heutigen, Splatter- und Torture-Porn-Filme schauenden Gorehound kann der Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahr 1944 natürlich keine Schrecken mehr einjagen. Und wer ausschließlich auf Blut und Gedärme steht, der sollte die Finger von diesem Spukhaus-Klassiker lassen. Wer sich jedoch an wohligem Schauer, wenigen und gemäßigten Schreckmomenten und schöner, düsterer Schwarz-Weiß-Fotografie delektieren kann, der sollte zugreifen. Und auch filmbildungstechnisch lohnt dieser Ghost-Trip zu den Anfängen des Subgenres der Haunted-House-Filme. „Der unheimliche Gast“ bildet das Grundmodell des typischen Geisterhausfilms und steht am Beginn einer langen Tradition von Filmen wie „Schloss des Schreckens“ (1961), „Bis das Blut gefriert“ (1963), „Amityville Horror“ (1979), „Shining“ (1980), „Poltergeist“ (1982) etc.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Materialisation der Geister aus dem Nebel

Bewertung: 7/10

Montag, 21. April 2014

Faszinierende Verfilmung von Alfred Kubins phantastischem Roman "Die andere Seite" (1909)


Alle Rechte an Fotos und Grafiken bei © Filmjuwelen/ALIVE



Traumstadt (Deutschland 1973, Regie: Johannes Schaaf)

Kritik: Stellen Sie sich vor, Sie seien ein mehr oder weniger erfolgreicher Künstler in München, Anfang der 70er-Jahre, verheiratet, und während Sie so durch die Stadt schlendern, merken Sie, dass Sie von einem Mann verfolgt werden. Dieser gibt sich irgendwann als Agent eines gewissen Klaus Patera zu erkennen, mit dem Sie zusammen auf die Schule gegangen sind. Dieser Klaus Patera sei, so erzählt der Agent, zu unermesslichem Reichtum gekommen und habe an einem geheimen Ort irgendwo im fernen Asien eine Traumstadt gegründet. Dort herrsche absolute Freiheit, es gebe keinerlei materielle Not und jeder könne sich dort selbst verwirklichen und nach seiner Façon selig werden. Klaus Patera lade Sie und Ihre Frau ein, in seiner Traumstadt zu leben.

Das ist die Ausgangssituation des Films „Traumstadt“ von Johannes Schaaf. Der Film basiert auf dem phantastischen Roman „Die andere Seite“ (1909) von Alfred Kubin. Personen, Handlungsgerüst und einige Motive wurden direkt aus dem Roman übernommen, die Handlung spielt jedoch in der Gegenwart. Nach nur kurzem Zögern, ein Scheck über 100000 DM für die Reise zerstreut die letzten Zweifel, entschließen sich der Künstler Florian Sand (Per Oscarsson) und seine Frau Anna (Rosemarie Fendel), der Einladung zu folgen. Schon die Reise in die Traumstadt ist voller Symbolik. Die erste Etappe wird in einer Lufthansamaschine zurückgelegt, dann folgt ein Flug in einem alten Kleinflugzeug, anschließend werden Wegstrecken mit dem Auto und auf einem Kamel zurückgelegt. Das letzte Stück müssen Florian Sand und seine Anna zu Fuß gehen. Irgendwann treffen sie auf einen kleinwüchsigen Diener Klaus Pateras, der sie zu einer Kutsche führt, Assoziationen an phantastische Vampirgeschichten werden hier geweckt, mit der sie die letzte Wegstrecke zurücklegen.

Die Reise in die Traumstadt erweist sich, was die Verkehrsmittel betrifft, als eine Reise in die Vergangenheit. Dabei bleibt noch offen, ob diese Reise in die Vergangenheit die Protagonisten in ein natürliches, ursprüngliches Paradies führt oder ob es nicht doch eher eine Reise zurück in Anarchie und Chaos ist, eine Reise in Wildheit und Barbarei. In der Traumstadt angekommen, werden die beiden noch einmal darauf hingewiesen, dass dort sämtliche Wünsche ausgelebt werden dürften. Es gebe nur ein Gesetz: der totale Respekt vor der Individualität des anderen. Am Anfang scheint alles gut zu laufen. Das Paar sucht sich eine Wohnung, und die Kleider in den Schränken haben schon die passende Größe. Im Restaurant bringt man ihnen genau das Gericht, das sie gerade bestellen wollten. Alles scheint gut. Dennoch entwickelt sich von Anfang an ein zwiespältiges Gefühl beim Zuschauer. Die Menschenmenge, die die Neuankömmlinge begrüßt, ist merkwürdig melancholisch und apathisch. Wirklich fröhliche, ausgelassene Menschen gibt es dort kaum. Das Leben in der Traumstadt gestaltet sich für Florian Sand und seine Frau zunehmend kafkaesk. Der Versuch, eine Besuchserlaubnis für den Schulfreund Klaus Patera zu bekommen, scheitert an der Verrücktheit des Verwaltungsapparates. Bei einem Theaterbesuch müssen die Neuankömmlinge feststellen, dass es keine Zuschauer, sondern nur Akteure gibt, was zu einer schrecklichen Kakofonie und einem Chaos auf der Bühne führt, weil jeder Darsteller sein eigenes Ding macht. In einer anderen Sequenz mauert ein Mann ein Fenster zu, „weil er Lust dazu hat“.

Die Frage Paradies oder Chaos ist schnell entschieden. Die Bewohner der Traumstadt werden zunehmend zügellos, gewalttätig und gehen ihren Perversionen nach. Es herrschen Revolution und Chaos, und auch die maroden Gebäude der Stadt fallen in sich zusammen. Ein resignierter alter Mann bringt die Aussage des Films auf den Punkt: „Der Mensch ist nicht geschaffen, Freiheit zu ertragen.“ Regisseur Johannes Schaaf zelebriert den Untergang der Traumstadt gegen Ende des Films ausführlich und wird damit weitgehend dem Roman gerecht, der sich nach der ersten Hälfte nur noch mit der Beschreibung des Untergangs des Traumreiches beschäftigt. Explosionen, ein- und umstürzende Gebäude und Bäume dürften einen Großteil des Budgets verschlungen haben. Dass die Dreharbeiten in einer mittelalterlich anmutenden, maroden tschechischen Stadt stattfanden, die anschließend geflutet werden sollte, kam den Aufnahmen zugute. Hier konnten sich die Filmmacher so richtig austoben. Nicht austoben konnten sie sich bei den sonstigen Dreharbeiten, denn die Beamten des damals kommunistischen Staates CSSR machten es dem Regisseur Johannes Schaaf nicht gerade leicht, wie er im Interview, das sich ebenfalls auf der DVD befindet, erzählt. Sie haben anfangs sogar gedacht, dass der Film eine Verhohnepipelung des Kommunismus sei.

Trotzdem ist es irgendwie gelungen, das Projekt noch zu Ende zu bringen. Herausgekommen ist ein beeindruckender Film, der für sich zwar sehr gut funktioniert. Dass die Produzenten den Regisseur damals jedoch dazu nötigten, dreieinhalb Stunden Filmmaterial auf circa zwei Stunden herunterzukürzen, hat dem Film sicher nicht gutgetan. Das Material ist nicht mehr vorhanden, ein Director's Cut also nicht mehr möglich, was Johannes Schaaf heute bedauert. Vieles bleibt daher Andeutung oder zusammenhangloses Stückwerk, das man, ohne den Roman gelesen zu haben, nicht wirklich versteht („Uhrbann“), die Geschichte wird zu schnell erzählt. Der langsame Niedergang der Sitten der Einwohner und der Verfall der Substanz der Gebäude, das langsame Entstehen einer revolutionären Stimmung und einiges anderes können mit den zeitlich begrenzten Möglichkeiten des Mediums Film einfach nicht dargestellt werden. Zahlreiche phantastische Elemente des Romans, der lange als unverfilmbar galt, wurden ebenfalls fast völlig außen vor gelassen. Eine Verfilmung mit den heutigen technischen Möglichkeiten wäre sicher eine reizvolle Aufgabe.

Löst man sich in seiner Bewertung jedoch vom Vergleich mit dem Roman, dann bleibt ein doch recht beeindruckendes Werk deutscher Filmgeschichte. Regisseur Schaaf hat einige wunderbare Bilder geschaffen wie das Pferd, das auf seinem Rücken sterbende Menschen transportiert, die Statue, die sich plötzlich bewegt, und viele andere. Überhaupt korrespondiert die Bildsprache von Johannes Schaaf wunderbar mit der utopiekritischen Aussage des Romans. Alles funktioniert irgendwie rückwärts, symbolisiert Rückschritt. Angefangen von der Anreise am Anfang des Films bis zu den Bewohnern, die am Ende wieder in Zelten hausen und aufeinander losgehen wie Neandertaler. Oder die wunderbar in Szene gesetzte Inversion der symbolischen Bedeutung des Eies, das normalerweise für beginnendes Leben steht. In der Traumstadt werden sterbenskranke Menschen in Eierschalen liegend an einem Baum aufgehängt, wo sie in ihren weißen Särgen den Tod erwarten.  

„Traumstadt“ ist eine gelungene Mixtur aus realistischer Darstellungsweise, zum Teil surrealen Bildern und einer phantastischen Geschichte über einen Gesellschaftsentwurf, der Utopie anstrebt und doch im Chaos endet. Der Film, dessen beeindruckende Bilder vielen, die ihn in den 70er-Jahren sahen, noch im Gedächtnis geblieben sein dürften, ist endlich auf DVD erschienen, noch dazu in einer wunderschönen Edition. Nach über 40 Jahren kann man sich dieses Filmjuwel wieder anschauen! Ein großer Dank dem herausgebenden Label, das damit wieder einmal gezeigt hat, dass es sie sehr wohl gibt, „die andere Seite“ des Deutschen Films, der heutzutage leider durch einseitige Filmförderung von seichten bis albernen Komödien und Zweite-Weltkriegs-Dramen dominiert wird.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Gnom auf der Kutsche // Theateraufführung //  sterbende Menschen in Eierschalen am Baum // Statue // Fenster wird zugemauert // nackte Olimpia

Bewertung: (8/10)


Sonntag, 30. März 2014

Aelita – Der Flug zum Mars


Aelita - Der Flug zum Mars (OT: Aelita, Sowjetunion 1924, Regie: Jakov Protasanov, SW)

Kritik: Der 1924 in der Sowjetunion erschienene Stummfilm „Aelita“ erzählt die Geschichte des Ingenieurs Losj gegen Ende der russischen Bürgerkriegszeit um 1921. Der Film besteht im Grunde aus zwei Handlungssträngen. Im ersten wird der von Elend und Armut bestimmte Moskauer Alltag gezeigt. Losj' Frau Natascha arbeitet am Kursker Bahnhof, der damals gleichzeitig ein Hospital und Durchgangsstation für Flüchtlinge, Deportierte und andere Kriegsopfer war. Wir lernen den korrupten Beamten Erlich kennen und noch einige andere Personen, die zum Teil von den guten alten Zeiten schwärmen. Der zweite Handlungsstrang besteht aus der Mars-Thematik. Gleich zu Beginn des Films erhalten Radiostationen in ganz Europa Signale mit den undechiffrierbaren Worten „Anta Odeli Uta“. Ingenieur Losj befasst sich näher mit den Signalen und vermutet, dass sie vom Mars kommen. Doch die Bedeutung der Worte kann auch er nicht entschlüsseln.

Er flüchtet sich aber von nun an zunehmend in Tagträume, in denen er Visionen vom Leben auf dem Mars hat. Er entwickelt unter anderem Pläne für den Bau einer Rakete. Die beiden Handlungsstränge werden zusammengeführt, als Losj im Eifersuchtswahn seine Frau erschießt. Er flieht an den Stadtrand von Moskau, wo er in eine Rakete steigt und zum Mars fliegt. Begleitet wird er von dem Rotarmisten Gussev, den die Tatenlosigkeit nach den Revolutionskriegen und seine Ehe langweilen, und einem Detektiv, der sich auf die Fersen des vermeintlichen Mörders gemacht hat und kurz vor dem Start in die Rakete gelangt ist. Auf dem Mars herrscht eine Art totalitäres Regime, Arbeitssklaven, die gerade nicht benötigt werden, lagert man dort eingefroren in Kühlhäusern. Losj verliebt sich in Aelita, die Königin vom Mars, während der Rotarmist eine Revolution anzettelt. Losj tötet Aelita später, weil diese sich zwar am Anfang auf die Seite der Aufständischen stellte, sich letztendlich aber doch als unverbesserliche Tyrannin entpuppte, die, um in realpolitischen Termini zu sprechen, nicht bereit war, den Schritt von der bürgerlichen (Marseillaise-Musik!) zur proletarischen Revolution zu vollziehen, sondern die Arbeiter weiterhin versklaven wollte. Als Losj auf der Erde aus seinen Tagträumen erwacht, entdeckt er, dass die Worte „ Anta Odeli Uta“ nichts anderes waren als Reklame für eine Handelsmarke. Es stellt sich heraus, dass er seine Frau nicht erschossen hat. Losj verbrennt seine Konstruktionsunterlagen für eine Rakete mit den Worten: „Genug geträumt, uns alle erwartet eine andere, richtige Arbeit.“ Mit diesem symbolischen Abschied von seinen phantastischen Tagträumereien endet der Film. Das Leben in Moskau ist nicht mehr so chaotisch wie am Anfang, Natascha arbeitet nun in einem Kinderheim und auch gegen die Korruption wurde etwas unternommen (der korrupte Beamte Erlich wurde festgenommen). Ein kommunistisches Happy End.

Der Film basiert auf der Novelle „Aelita“ von Alexej Tolstoi (1883-1945). Tolstoi, der bei Ausbruch der Oktoberrevolution den Zielen und Bestrebungen der neuen Machthaber eher kritisch gegenüberstand, hatte seine Heimat verlassen und war nach Westeuropa emigriert. Doch enttäuscht von den Zuständen im Westen, der antisowjetischen Haltung vieler Emigranten und getrieben von der Sehnsucht nach der Heimat, fasste er den Entschluss, nach Russland zurückzukehren. In der sowjetischen Botschaft in Berlin verfasste er 1921 den Marsroman „Aelita“. Der Regisseur des Films, Jakov Protasanov, teilte ein ähnliches Schicksal. Auch er war zunächst aus Russland emigriert (1918), kehrte aber 1922 in die Sowjetunion zurück. Das Thema Emigration kommt auch in dem Film selbst vor.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Protasanov im Westen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) gesehen hat. Die Kulissen auf dem Mars erinnern an die expressionistischen Kulissen des Films von Robert Wiene, ergänzt durch eine Melange aus Bauhaus, Kubismus und russischem Konstruktivismus. Auch die ausgefeilten Werbestrategien für beide Filme weisen Parallelen auf. Mit den Worten „Du musst Caligari werden!“, die auf Werbeplakaten, Transparenten und Zeitschriften in ganz Berlin zu lesen waren, ohne dass zu dem Zeitpunkt für die Bevölkerung klar war, worum es sich eigentlich handelte, wurde für den Film von Robert Wiene geschickt Werbung gemacht. „Aelita“ wurde Ende September 1924 im Moskauer Kino Ars (heute Stanislawski-Theater) uraufgeführt. Die Werbung für den Film setzte schon ein halbes Jahr vorher ein. Seit dem 26. Februar druckte die Zeitschrift Kinogazeta die Worte „Anta Odeli Uta“ ohne weitergehende Erläuterungen ab. Ausgabe für Ausgabe. Diese Worte begegneten den Zeitgenossen bis kurz vor der Uraufführung immer wieder, auf Plakaten, Zaunwänden oder Transparenten, die quer über Straßen gespannt waren. Ab April wurden die drei Worte bisweilen ergänzt durch den Satz: „Seit einiger Zeit empfangen Radiostationen auf der ganzen Welt unbekannte Signale...“ Kurz vor der Uraufführung druckte die Kinogazeta einen Text, der darüber informierte, dass die Signale nun entschlüsselt seien. Die Auflösung gäbe es im Kino Ars zu sehen. Kein Wunder, dass die erste Science-Fiction-Großproduktion der Sowjetunion, das teuerste Projekt des noch jungen sowjetischen Films, ein Megaerfolg wurde. Der weibliche Vorname Aelita soll sogar bei jungen Eltern nach 1924 besonders beliebt gewesen sein.

Sowohl Roman als auch Film sind ein offenes Bekenntnis zu den Zielen der Revolution und enthalten in dem Sinne Elemente von Propaganda, allerdings noch nicht so dogmatisch und schematisiert wie ab Anfang der 30er-Jahre (sozialistischer Realismus). Rückblenden auf die gute alte Zeit, in der der Wein noch nicht sauer schmeckte und Ordnung herrschte, enthalten deutliche Seitenhiebe auf die im vorrevolutionären Russland herrschende soziale Ungleichheit: Ein Mensch muss dem anderen die Schuhe putzen, eine Gruppe auf dem Bürgersteig wird genötigt stehen zu bleiben, weil Mitglieder der feinen Gesellschaft den Weg kreuzen. Realistisch wird im Film aber auch der nachrevolutionäre Alltag gezeigt, der geprägt ist von Lebensmittelkarten, Wohnungsnot, Korruption und Spekulation sowie illegal veranstalteten Bällen für eine ausgesuchte Gesellschaft.

Die Bedeutung des Films ist, ähnlich wie sein Inhalt, auf zwei Ebenen angesiedelt. „Aelita“ ist ein wertvolles Zeitdokument und ein sehr genaues Alltagsporträt Moskaus zur Zeit der „liberalen“ Neuen Ökonomischen Politik. Protasanov, der gerne Spielfilmszenen mit dokumentarischen Aufnahmen verband, zeigt uns auch hier zahlreiche authentische Aufnahmen von Originalschauplätzen mit Statisten aus dem einfachen Volk. Unter anderem sind Bilder einer Demonstration auf dem Roten Platz (ohne Lenin-Mausoleum) zu sehen. Das Minin-und-Poscharski-Denkmal steht dabei noch im Zentrum des Roten Platzes und nicht wie heute vor der Basilius-Kathedrale, und der Rote Platz selbst ist noch nahezu unbefestigt, mit Gras und Stroh bedeckt. Wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist auch „Aelita“ ein Schlüsselfilm seiner Zeit, in dem sich Historie und Entstehungsbedingungen gleich mehrfach spiegeln (Kunst, Politik, Film). „Aelita“ erzählt die Geschichte seiner Zeit und von Helden, die sich von ihrer Vergangenheit trennen und die neue Wirklichkeit akzeptieren. Phantastische Träumereien werden verworfen, stattdessen gilt es, sich an die wirklich wichtige Arbeit zu machen, den Aufbau einer Utopie auf Erden. Filmhistorisch bedeutsam ist „Aelita“, weil es sich um einen der ersten Langfilme des Science-Fiction-Genres überhaupt handelt und er mit seinen Dekors und Kostümen die Vorstellung von futuristischen Gesellschaften prägte. Allein wenn man sich die Folgen der einflussreichen amerikanischen „Flash Gordon“-Serie aus den dreißiger Jahren anschaut, wird man zahlreiche Ähnlichkeiten entdecken können. Und glaubt man dem Eintrag in der russischsprachigen Wikipedia, dann wurde auch einer der Väter der sowjetischen Kosmonautik, der Raketenkonstrukteur Boris Tschertok (1912-2011), in seiner Biografie wesentlich von dem Film „Aelita“ beeinflusst, weil er in ihm das Interesse für Radiotechnologie, Fliegerei und Raumfahrt weckte.

„Aelita“ ist ein Stummfilmklassiker und ein Meilenstein des Science-Fiction-Genres. Einer von den Filmen, bei denen man froh sein kann, dass sie der Nachwelt erhalten geblieben sind. Denn einige Jahre später kam der Film in der Sowjetunion auf die Liste der verbotenen Werke. Das änderte sich erst mit Ende des Kalten Krieges gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Die Schwäche des Films, die allzu offensiv verkündete ideologische Botschaft, wird allemal wettgemacht durch seine filmästhetischen Vorzüge. Er überzeugt durch seine dokumentarischen Aufnahmen und die überraschend genaue Darstellung des zeitgenössischen Moskau einerseits, andererseits durch seine wegweisenden phantastischen Bilder und Kulissen vom Mars. Diese stilistische Dichotomie von Realismus und Phantastik gibt dem Film einen ganz besonderen Reiz. Darüber hinaus sind die schauspielerischen Leistungen grandios. Der Regisseur verpflichtete in erster Linie erfahrene Theaterschauspieler, und um eine Schönheit für die Rolle der Aelita zu finden, führte Protasanov ein mehrere Tage dauerndes Casting durch. Unzählige Anwärterinnen sollen sich für die Rolle der Marskönigin beworben haben, die letztendlich an die junge Schauspielerin Julia Solnzewa vergeben wurde.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Parade auf dem Roten Platz // Aelita // Marsarbeiter auf Fließband // Marsianer schauen durch Teleskop // Marskulissen // Revolution auf dem Mars

Bewertung: (9/10)

Sonntag, 23. März 2014

Gelungene Verfilmung von H. P. Lovecrafts Kurzgeschichte "Die Farbe aus dem All" (1927)


Die Farbe (Deutschland 2010, Regie: Huan Vu)

Kritik: In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts schlägt in einem Dorf in der Schwäbischen Alb ein Meteorit ein. In der Folge kommt es zu einer Reihe unerklärlicher Veränderungen bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Schon die Tatsache, dass sich der Meteorit einer Untersuchung durch Wissenschaftler entzieht, sich nach einigen Tagen auflöst und nichts mehr von ihm übrig bleibt, deutet an, dass wir es hier mit etwas Unfassbarem zu tun haben. Die Familie, auf dessen Gehöft der außerirdische Körper niederging, ist besonders hart getroffen. Es kommt zu Missernten, Pflanzen zerfallen nach einer kurzen Phase des Aufblühens zu Staub, und auch vor Tieren und Menschen macht das Phänomen nicht halt. Fische, Vögel und Frösche sterben, Menschen werden von Wahnsinn befallen.

Ähnlich wie es Robert Wiene bei einem der ersten phantastischen Filme, „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), getan hat, bedient sich auch Regisseur Huan Vu des erzählerischen Konzept der Rahmenhandlung. Ein Amerikaner aus der Stadt Arkham fährt in den 70er-Jahren in das betroffene Dorf, um Erkundigungen über seinen seit einiger Zeit verschwundenen Vater einzuholen. Dieser war 1945 als Mitglied der amerikanischen Streitkräfte dort stationiert und ist nun wieder in diese Gegend gefahren. Der Sohn trifft bei seinen Nachforschungen auf einen älteren Dorfbewohner, der von den unheimlichen Geschehnissen nach dem Meteoriteneinschlag berichtet.

Spätestens mit der Erwähnung des Ortes Arkham erkennt der Genreliebhaber den Verweis auf den Horrorschriftsteller H. P. Lovecraft (1890-1937). In vielen seiner unheimlichen Erzählungen kam dieser fiktive Ort vor. Die Werke Lovecrafts dienten, ähnlich wie die von E. A. Poe, zahlreichen Horrorfilm-Regisseuren als Inspirationsquelle und Stichwortgeber. Und auch Huan Vus „Die Farbe“ ist eine Verfilmung von Lovecrafts Erzählung „The Colour Out Of Space“ (dt.: „Die Farbe aus dem All“). Ort und Zeit wurden zwar verändert, Figurenkonstellation und Fabel jedoch wurden kaum modifiziert. „The Colour Out Of Space“ erschien 1927 und markiert den Beginn der Schaffensperiode des Autors, in der er seine großen kosmischen Horrorgeschichten verfasste. Die Erzählung beeindruckt durch die genaue, fast reportagenhafte Darstellung der unheimlichen Ereignisse, die dem Meteoriteneinschlag folgten. Meisterhaft schildert er den langsam fortschreitenden Verfall von Flora und Fauna. „Über allem lag ein Schleier von Unrast und Bedrückung; ein Hauch des Unwirklichen und Grotesken, so als sei ein wesentliches Element der Perspektive oder des Wechsels von Licht und Schatten zerstört.“ 

Diese Worte hat Lovecraft seinem Ich-Erzähler in den Mund gelegt, und es ist beeindruckend, wie es Huan Vu in seiner filmischen Adaption gelingt, die hier nur angedeutete Atmosphäre der Erzählung auf die Leinwand zu übertragen. Er setzt offenbar genau bei den Begriffen Perspektive sowie Licht und Schatten an. Mit klassischen Stilmitteln der Filmkunst gelingt es ihm, die düstere Atmosphäre der literarischen Vorlage fast eins zu eins umzusetzen. Charakteristisch für die Schwarz-Weiß-Bilder des Films sind eine Dominanz dunkler Grautöne und Kontrastarmut, was die eigenartige Stimmung nur noch verstärkt. Handwerklich wurde das wohl dadurch erreicht, dass die Szenen zwar in Farbe gedreht wurden, aber anschließend ohne weitere große Bearbeitung in Schwarz-Weiß konvertiert wurden. Der mehrfache Einsatz der subjektiven Kamera, sogar aus der Perspektive des Meteoriten, evoziert von Anfang an eine besonders bedrohliche Atmosphäre. Ahnt doch der Zuschauer schon lange vor den Protagonisten, dass es sich hier wohl um eine Art Wesen oder Existenz handelt. Wer sollte sonst aus dem Meteoriten „herausschauen“? Schräge Kamerawinkel, lange Einstellungen und Großaufnahmen alltäglicher Gegenstände, ungewöhnliche Perspektiven und der Einsatz von Weitwinkeloptiken verweisen mit Fortschreiten der Geschichte auf die aus den Fugen geratende Welt. Unterstützt wird das Ganze noch durch einen stimmigen Einsatz von Musik und bedrohlich wirkenden Geräuschen und Klängen. Trickaufnahmen von zu Staub zerfallenden Pflanzen und Körpern, übergroßer Insekten und dem Star des Film, der Farbe aus dem All, machen die Sache perfekt. Die einzigen Farbaufnahmen sind übrigens die, in denen die (pink-rosa) „Farbe aus dem All“ ihren Auftritt hat.

Der Film „Die Farbe“ ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man auch mit geringem Budget eine unheimliche Stimmung und subtilen Schauer erzeugen kann. Er sollte all den untalentierten Hollywood-Regisseuren als Vorbild dienen, die anscheinend nur noch mit Schnittgewitter, Wackelkamera und der Lautstärke des Scores zu erschrecken vermögen. Der Film endet übrigens mit einem ähnlichen Fragezeichen wie der Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920). Durch die letzten Einstellungen, die konfusen Visionen des Rahmenerzählers, kann sich der Zuschauer nicht mehr ganz sicher sein, wie er das Gesehene einzuordnen hat...

Dieser Film gehört für mich zu den besten Literaturverfilmungen im Horrorgenre. Man muss die Geschichte von Lovecraft nicht unbedingt kennen, um an „Die Farbe“ gefallen zu finden. Er ist ein absolutes Must-see, und eigentlich gehört er auch in jede Filmsammlung. Wer in seinem Rezeptionsverhalten noch nicht durch Wackelkamera, Schnittgewitter und Lautstärke-Schocks beschädigt wurde, wird diesen ruhigen, bedrückenden Film genießen. Volle Punktzahl für ein Meisterwerk des (deutschen!) Genrekinos.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: von der Farbe durchleuchteter zerfallender Körper // Biene auf dem Kopf // Bäume // tote Tiere // Farbeffekte // übergroße Birnen

Bewertung: (10/10)


Sonntag, 16. März 2014

Hänsel und Gretel: Hexenjäger


Hänsel und Gretel: Hexenjäger (OT: Hansel and Gretel: Witch Hunters, USA/D 2013, Regie: Tommy Wirkola)

Kritik: Na dass mit dem guten alten Märchen „Hänsel und Gretel“ der Brüder Grimm irgendwas nicht stimmen konnte, haben wir ja schon immer geahnt. Eltern würden doch niemals ihre Kinder im Wald aussetzen, nur weil das Essen grad ein bisschen knapp ist oder die Zeiten schlecht sind. Wie es sich auch abgespielt haben könnte, zeigt uns Regisseur Tommy Wirkola in seiner Version des Volksmärchens. Die Geschwister wurden zu ihrem Schutz im Wald ausgesetzt, denn hinter den Kulissen tobte ein Krieg zwischen schwarzen und weißen Hexen, dem dann auch Vater und Mutter von Hänsel und Gretel zum Opfer fielen. Happy End ausgeschlossen. Ganz wie im Märchen erfahren wir in der Pre-Credits-Sequenz, wie Hänsel und Gretel ans Knusperhäuschen einer Hexe gelangen und in die Falle tappen. Hänsel wird von der Hexe mit Süßigkeiten gemästet, was ihm später dann prompt einen ausgewachsenen Diabetes mellitus einbringt. Vor allem dank Gretels furchtlosem Einsatz gelingt es den beiden Rackern, die Hexe dorthin zu befördern, wo wohl alle schwarzen Hexen am besten aufgehoben wären: in den Ofen. Dass bei der Inszenierung des Films viel Wert auf Action gelegt wird, deutet sich hier bereits an.

Schnitt. Hänsel (Jeremy Renner) und Gretel (Gemma Arterton) sind nun erwachsen, und der Zuschauer erfährt mittels abfotografierter Zeitungsausrisse im Schnelldurchlauf, dass Brüderchen und Schwesterchen mittlerweile als Hexenjäger eine große Karriere gemacht haben und, wenn sie denn gerufen werden, gegen Kohle den betroffenen Gemeinden helfen und die Hexen in Asche verwandeln. Ein solches Hexenproblem hat die Stadt Augsburg, in der immer mehr Kinder in der letzten Zeit spurlos verschwunden sind. Wie Hänsel und Gretel dieses Problem zu lösen versuchen und auf welche Widerstände sie dabei stoßen, zeigt Regisseur Wirkola in seinem temporeich inszenierten Fantasy-Action-Abenteuer. Wie schon bei der Information über die Biografie der Geschwister deutlich geworden ist, legt Wirkola dabei keinen allzu großen Wert auf klassisches, langatmiges Erzählen. Über die Charaktere Hänsel und Gretel erfahren wir nicht wirklich viel, auch der Handlungsstrang, der das Techtelmechtel von Hänsel mit einer weißen Hexe behandelt, wird eher oberflächlich dargestellt. Sämtliche Figuren bleiben, und hier sind wir wieder beim typischen Merkmal des klassischen Volksmärchens, eindimensional und schablonenhaft. Aber was dem Märchen nicht schadet, schadet auch diesem Film nicht.

Effekte und schnell geschnittene Kampf- und Actionszenen stehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung der Hexenjäger mit der Hexenarmee, die von einer beeindruckend spielfreudigen Famke Janssen als Oberhexen-Domina angeführt wird. Für eine düstere Atmosphäre sorgen tolle (Hexen-)Masken, Kostüme und Kulissen. Besonders die Szenen, die im finsteren deutschen Wald spielen, sind stimmungsmäßig gelungen. Der Film wurde unter anderem im Studio Babelsberg und in Braunschweig und Umgebung gedreht. Bei dem Marktplatz von Augsburg, der des Öfteren Schauplatz des Geschehens ist, handelt es sich in Wirklichkeit um den Burgplatz in Braunschweig. Dem Zuschauer bleibt jedoch kaum Gelegenheit, die düster-gruselige Atmosphäre in Ruhe zu genießen, denn der Film lässt einem kaum Zeit zum Durchatmen. Neben mit sichtlicher Freude inszenierten Actionsequenzen verwendet Regisseur Wirkola immer wieder auch das Stilmittel des Splatterfilms. Szenen, in denen Köpfe zerquetscht werden, Opfer Gretel vom Amtsrichter und seinen Kohorten verprügelt wird, fliegende Hexen mit einem Maschinengewehr wie Moorhühner vom Himmel geschossen werden oder ihrer körperlichen Unversehrtheit verlustig gehen, wenn sie mit aufgespannten Drähten kollidieren, sind wohl dafür verantwortlich, dass der Film nur eine FSK-16-Freigabe erhielt. Dass sich „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“ an Erwachsene und Fast-Erwachsene richtet, heißt nicht, dass er nun auf ganzer Linie ernst genommen werden will. Zu häufig sind die bisweilen lustigen, bisweilen albernen Ideen, zeitgenössische Aspekte einfließen zu lassen (Zuckerkrankheit von Hänsel, Groupie mit Autogrammwunsch und Pressemappe). Das Konzept der alten, buckligen Hexe mit Hakennase wurde ergänzt. Die Entwicklung der Damen, die mit dem Satan im Bunde stehen, ist ähnlich der, die die beliebten Film-Zombies genommen haben, die sich ja auch erst schlurfend kaum auf ihren eigenen zwei Beinen halten konnten und später zu wahren Sprintwundern mutierten. Die Hexen in Wirkolas Film haben Martial-Arts-Fähigkeiten und sind im Zweikampf aufgrund ihrer Schnelligkeit und Gewandtheit kaum zu bezwingen. Diese Zweikämpfe zwischen Hänsel und /oder Gretel und den Hexen werden zeitlich bis zum Anschlag zelebriert. Hier hätte etwas weniger dem Film gut getan. Weit davon entfernt, eine komplexe Handlung zu haben, offenbart „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“ seine Geschichte dennoch nicht ungeschickt und peu à peu erst mit fortschreitender Handlung, um dort zu enden, wo sie angefangen hat. 

Wirkolas Film will in erster Linie unterhalten, und das gelingt ihm bestens. Hat man sich erst mal auf Genre und Thematik eingelassen, kommt aufgrund der temporeichen Inszenierung und toller Bilder kaum Langeweile auf. Die Erzählzeit vergeht wie im Hexenflug. Den Hauptdarstellern Jeremy Renner und Gemma Arterton wird zwar nicht allzu viel an Schauspielkunst abverlangt, als Geschwisterpärchen mit heiliger Mission harmonieren sie jedoch wunderbar und glaubwürdig. Famke Janssen als Oberhexe ist der Oberhammer und eine reine Augenweide, Troll Edward, angesiedelt irgendwo zwischen King Kong und Shrek, ist der heimliche Star des Films. Ganz am Rande transportiert „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“ im Subtext natürlich auch, wie fast jeder Film, einige moralische Lebensweisheiten, nämlich dass selbst Helden nicht alles wissen können (ja, es gibt auch gute Hexen) und man sich nie mit dem pöbelnden Mob gemein machen sollte, der allzu schnell Köpfe rollen sehen will. Aber das wissen wir selbstverständlich schon länger, denn wir lieben ja phantastische und Horrorfilme. „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“ ist gelungene (Heim-)Kino-Unterhaltung, die durch ihre temporeiche Inszenierung und visuellen Angebote zu fesseln vermag. Ich werde mir den Film gerne ein zweites Mal anschauen und ganz gewiss auch das geplante Sequel...

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Luftangriff der Hexen // Zimmerrenovierung mit roter Farbe // Hexe im Ofen // Troll Edward // roter Himmel // Wald // nackte weiße Hexe

Bewertung: (7/10)



Dienstag, 4. März 2014

Die Teufelswolke von Monteville


Die Teufelswolke von Monteville (OT: The Trollenberg Terror, AT: The Crawling Eye, GB 1958, SW, Regie: Quentin Lawrence )

Kritik: Der weiße Nebel nähert sich vom Meer kommend unaufhaltsam der kalifornischen Küstenstadt Antonio Bay, und er führt grauenhafte Passagiere mit sich: halbverweste Leichen, die sich an den Einwohnern der Stadt für in der Vergangenheit begangenes Unrecht rächen wollen. Das ist die Situation in John Carpenters Horrorfilmklassiker „The Fog – Nebel des Grauens“ (1980). Ähnlich ist die bedrohliche Ausgangslage im Science-Fiction-Film „Die Teufelswolke von Monteville“ aus dem Jahr 1958. Hier ist es eine radioaktive Wolke, die am Berg Monteville in der Nähe des Alpenortes Trollenberg festhängt. Auch sie führt Passagiere mit sich, außerirdische Monster, die die Erde erobern wollen. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Filmen ist nicht zufällig. John Carpenter hat „Die Teufelswolke von Monteville“ mehrmals gesehen, der Film von Quentin Lawrence war in seiner Jugend einer seiner Lieblingsfilme. Und Carpenter gibt im Audiokommentar zum Film offen zu, dass er bei „The Fog“ von dem älteren Film inspiriert worden ist.

Der Science-Fiction-Film als Seismograf für kollektive Ängste erlebte in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen regelrechten Boom. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erfahrung des Atombombenabwurfs auf japanische Städte dominierten im Kontext von Korea-Krieg und Kaltem Krieg in den westlichen Ländern vor allem zwei Ängste: die vor der Bedrohung durch Radioaktivität (Atombombe) und die vor einer kommunistischen Invasion. Der Science-Fiction-Film mit seinen Themenbereichen Monster, Mutationen und Invasionen bot den Zuschauern die Gelegenheit, Ängste und Situationen, die den realpolitischen sehr ähnlich waren, im Kinosaal oder im Autokino lustvoll zu erleben und zu überleben. Diese kathartische Wirkung ist sicher mit ein Grund dafür, dass die Filme in der damaligen Zeit auf so große Resonanz stießen, obwohl sie in der großen Mehrheit eher schlecht und billig gemacht waren. Monster wurden durch Atombombenexplosionen erweckt („Panik in New York“, 1953) oder waren Ergebnis von Mutationen, die durch den Einfluss radioaktiver Strahlen entstanden sind („Formicula“, 1954). Außerirdische hatten nichts anderes im Sinn, als die Menschheit zu vernichten („Kampf der Welten“, 1953) oder die Körper der Menschen zu übernehmen („Die Dämonischen“, 1956). Nicht selten wurden bei den Filmen die Genres Science-Fiction und Horror vermischt. Auch die „Teufelswolke von Monteville“ ist eine dieser Low-Budget-Produktionen, die damals wie Atompilze aus dem Boden schossen. Der Film ist dem Science-Fiction-Genre zuzurechnen, enthält aber auch Topoi des typischen Horrorfilms (abgerissene Köpfe, lebende Tote).

Der Film beginnt mit einer Szene in den Schweizer Alpen. Einer von drei Bergsteigern trifft auf etwas Unheimliches, man sieht ihn nicht, sondern hört nur seine Stimme. Dann stürzt der mit einem Seil gesicherte Bergsteiger ab und wird von seinen zwei Begleitern wieder nach oben gezogen. Die müssen entsetzt feststellen, dass ihrem Mitkletterer der Kopf fehlt. Da dies offensichtlich nicht der erste Zwischenfall dieser Art war, begibt sich der amerikanische Wissenschaftler Alan Brooks, der für die UNO arbeitet, nach Trollenberg, um der Sache auf den Grund zu gehen. Im Zug trifft er auf zwei Frauen, die als Varietékünstlerinnen durchs Land ziehen. Eine von beiden ist hellseherisch begabt und besteht darauf, außerplanmäßig in Trollenberg auszusteigen. Sie fühlt sich auf eine verstörende Art vom Berg angezogen. Im weiteren Verlauf der Ereignisse wird den Protagonisten schnell klar, dass alles Übel von der Wolke ausgeht. Noch dazu versuchen einige Opfer der „Wolke“, lebende, ferngesteuerte Tote, die Hellseherin zu töten. Dann fängt die Wolke an sich zu bewegen. Sie wandert auf den Ort Trollenberg zu. In der Wolke befinden sich glubschäugige Monster mit Tentakeln, die es auf die Menschen abgesehen haben...

Man sieht dem Film sein niedriges Budget an. Wackelnde Bergkulissen, das immer gleiche Matte-Painting vom Berg Monteville, das in nahezu jeder Szene den Hintergrund bildet, und ein äußerst übersichtliches Setting lassen die beschränkten finanziellen Möglichkeiten der Produzenten erahnen. Und dass der Film aus einer Mini-Serie für das britische Fernsehen hervorgegangen ist, kann er leider auch nicht verhehlen. Es oblag der Drehbuch-Legende Jimmy Sangster, der durch seine zahlreichen Arbeiten für die Hammer-Studios bekannt geworden ist, den Serienstoff zu einem Kinofilm umzuarbeiten. Was ihm aber nur zum Teil wirklich gelang. Der Film zeichnet sich durch eher unterentwickelte Figuren und nicht ausgereizte Charaktere aus (Reporter, Hellseherin). Vieles, wie der Vorfall in den Anden, bleibt nur nebulöse Andeutung, und Handlungsweise und Motivation einiger Figuren sind rätselhaft bis unlogisch. Eines kann man dem Film aber nicht absprechen: den für billig und schnell produzierte Science-Fiction-Filme der 50er-Jahre typischen Charme. „Die Teufelswolke von Monteville“ unterhält auf wunderbare Weise, auch heute noch. Produktionsteam und Schauspieler gaben sich die größte Mühe, einen Invasionsfilm zu drehen, der ernstgenommen werden will. Meine persönlichen Highlights des Films sind die Szenen gegen Ende, als die Monster ihren Auftritt haben. Hier sehen wir Bilder, die wahrhaft im Gedächtnis bleiben.

Bewertung: (5,5/10)

Samstag, 1. März 2014

Gravity


Gravity (OT: Gravity, USA/GB 2013, Regie: Alfonso Cuarón)

Kritik: Astronauten einer Space-Shuttle-Mission führen Außenarbeiten am Hubble-Weltraumteleskop durch. Unter den Astronauten sind Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock), für die es der erste Flug ist, und Matt Kowalski (George Clooney), für den es der letzte Einsatz ist. Dann kommt ein Funkspruch von der Bodenstation, in dem vor herumfliegenden Teilen eines zerstörten russischen Satelliten gewarnt wird. Die Astronauten brechen ihre Mission sofort ab, aber es ist zu spät. Trümmer des Satelliten schlagen am Ort des Geschehens ein und töten drei der fünf Astronauten. Nur Stone und Kowalski überleben. Sie treiben im Ozean des Nichts dahin, menschliches Treibgut, unbedeutend und klein. „Open Water“ im Weltenraum. Weiße Punkte vor schwarzem Hintergrund. Die Unendlichkeit und den Tod vor Augen. Ihre einzige Überlebenschance besteht darin, eine Raumstation mit Raumkapsel zu finden, die sie zurückbringt zu Mutter Erde. Doch das Unterfangen scheint aussichtslos, denn der Sauerstoff in ihren Raumanzügen wird knapp ebenso wie der Sprit für den Düsenrucksack Kowalskis, der es ihnen ermöglicht, im Weltraum zu navigieren. Wie mit einer Nabelschnur verbunden, versuchen sie ihr Ziel zu erreichen.

„Gravity“ ist (fast) ein Ein-Personen-Stück. Sandra Bullock, die für ihre Leistung zu Recht für den Oscar nominiert worden ist, trägt den Film ganz allein. Sie spielt ihre Rolle mit Inbrunst und Glaubwürdigkeit. Als zum Teil in Unterwäsche um ihr Überleben kämpfende Frau erinnert sie an Sigourney Weaver in „Alien“. Regisseur Alfonso Cuarón gelingt es, aus einer minimalistischen Story einen überwältigenden Hardcore-Science-Fiction-Film mit menschlichem Antlitz und Kultfaktor zu machen, der nie langweilig wird. Bilder voller Erhabenheit von der Erde und dem bedrohlichen, endlosen Weltraum fesseln den Betrachter ebenso wie die Actionsequenzen mit ihren gelungenen visuellen Effekten, in denen die umherfliegenden Teile eines russischen Satelliten den Protagonisten das Leben schwer machen. Und das Ende des Films mit seinen Bildern, Einstellungen und Anspielungen ist einfach grandios. Die Möglichkeiten des Kinos im 21. Jahrhundert, das zeigt Alfonso Cuarón mit seinem Film deutlich, gehen weit darüber hinaus, epochale Schlachtenbilder im Fantasyreich zu kreieren oder Häuserblocks und Städte in Schutt und Asche zu legen. „Gravity“ ist ein zutiefst philosophischer Film, der im Subtext u.a. die Themen Leben und Tod, Anfang und Ende diskutiert. Ähnlich wie „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) beschäftigt sich „Gravity“ mit der vermeintlich unbedeutenden Rolle des Menschen in einem unendlichen Universum und transportiert seine Botschaft mit eindringlichen, poetischen Bildern. Nahezu jede Einstellung des Films ist auf ihre Art visuell überwältigend und brennt sich dem Gedächtnis ein. Ein absolut empfehlenswerter Film mit Potenzial zum Klassiker.

Bewertung: (9/10)


Dienstag, 25. Februar 2014

Der erste Horrorfilm von Jess Franco und Spaniens erster echter Beitrag zum Horrorgenre



Der schreckliche Dr. Orloff (OT: Gritos en la Noche/L'horrible Dr. Orlof, AT: Schreie durch die Nacht, Spanien/Frankreich 1961, SW, Regie: Jesús Franco)

Kritik: Der wahnsinnige Dr. Orloff ist davon besessen, seiner Tochter, die bei einem Brand im Labor grauenhaft entstellt worden ist, ein neues Gesicht zu verschaffen und ihre ehemalige Schönheit wiederherzustellen. Dazu entführt er mit seinem taubstummen und blinden Diener Morpho junge Prostituierte und Sängerinnen, die er ermordet und als Übungsobjekte für seine Transplantationsversuche hernimmt. Der junge Inspektor Tanner soll das Verschwinden der Mädchen aufklären, Presse und Vorgesetzter erwarten rasche Erfolge. Wanda, die Verlobte des Inspektors, versucht auf eigene Faust, den Fall zu klären. Als „schamloses Mädchen“ verkleidet, begibt sie sich ins Nachtleben. Da sie Dr. Orloffs Tochter sehr ähnlich sieht, dauert es nicht lange, bis sie dem Wahnsinnigen auf- und in die Hände fällt...

Die Handlung erinnert stark an den 1976 produzierten Film JACK THE RIPPER – DER DIRNENMÖRDER VON LONDON mit Klaus Kinski in der Rolle des Dr. Orloff. Regie führte bei dem Film ebenfalls Jesús (Jess) Franco. Und in der Tat wurde für JACK THE RIPPER das Drehbuch von DER SCHRECKLICHE DR. ORLOFF als Vorlage verwendet. Mit eigentlich nur einer Änderung: Das Transplantationsmotiv wurde hier weggelassen, Klaus Kinski spielt einen frauenhassenden Serienkiller. Einfluss auf die Entstehung von DER SCHRECKLICHE DR. ORLOFF hatten sicher zwei Filme, in denen ebenfalls Mad Scientists junge Frauen umbringen, um ihre Töchter zu retten: der 1960 produzierte französische Film AUGEN OHNE GESICHT von Georges Franju (OT: LES YEUX SANS VISAGE, AT: DAS SCHRECKENSHAUS DES DR. RASANOFF) mit einer ganz ähnlichen Thematik und DIE MÜHLE DER VERSTEINERTEN FRAUEN von Giorgio Ferroni (mit Pierre Brice in einer Hauptrolle) aus demselben Jahr. Jess Franco hat in seinem Film aber nicht einfach abgekupfert, sondern zeigt hier schon Ansätze eines eigenen Stils. DER SCHRECKLICHE DR. ORLOFF ist spannend erzählt, allerdings mit einigen zu lang geratenen Dialogszenen, die eher an „Derrick“ und die guten alten Edgar-Wallace-Filme erinnern. Einige stimmungsvolle Nacht-Aufnahmen bei Regen und Einstellungen im Schloss erinnern atmosphärisch an die Universal-Klassiker der 30er-Jahre. Und besonders versiert zeigt sich Franco hier bereits im Umgang mit Licht und Schatten.

Die Auswahl der Schauspieler und deren Leistungen sind durchgehend gut, besonders Howard Vernon als Dr. Orloff und Ricardo Valle als sein Diener Morpho sind ein gruseliges Duo. Francos Vorliebe für das Schöne, das Verrucht-Weibliche, wird in vielen Einstellungen des Films schon deutlich. Sowohl bei Nahaufnahmen der hübschen Wanda als auch bei der Inszenierung der Nachtclubszenen. Was die Operationsszenen angeht, hält sich Franco im Vergleich zu Franjus AUGEN OHNE GESICHT dezent zurück. Der Spanier lässt es hier bei Andeutungen. Wer Jess Franco bisher nur als Billig- und Schnellfilmer von Frauengefängnisfilmen und sexuell aufgeladenen, zum Teil surrealistischen Horrorfilmen kennt und ihn deswegen ablehnt (andere verehren ihn dafür), sollte sich sein Frühwerk DER SCHRECKLICHE DR. ORLOFF durchaus mal antun. Man lernt den Spanier so von einer etwas anderen Seite kennen. 

Gleich aus zwei Gründen ist DER SCHRECKLICHE DR. ORLOFF auch filmhistorisch bedeutsam. Es handelt sich um den ersten Horrorfilm von Jess Franco und um den ersten echten spanischen Beitrag zum Horrorgenre. Eine gemäßigte Liberalisierung des Regimes Anfang der 60er-Jahre ermöglichte es Jess Franco, sich diesem in Diktaturen eigenartigerweise stets ungeliebten Genre zu widmen. Offensichtlich mögen Diktatoren das Horrorgenre nicht, da es letztendlich immer auf extreme Weise die postulierte schöne heile Welt negiert. Die Figur des Dr. Orloff erhielt übrigens einige offizielle und inoffizielle Fortsetzungen. Der Film steht somit am Anfang einer hervorragenden spanischen Horrorfilmtradition, die sich über „reitende Leichen“ hinweg bis in die Gegenwart hinein immer auch dadurch auszeichnete, besonders atmosphärische Bilder und Stimmungen zu kreieren.

DER SCHRECKLICHE DR. ORLOFF wurde wohl niemals im deutschsprachigen Raum gezeigt, und so existiert auch keine deutsche Tonspur. Bei der vorliegenden Fassung handelt es sich um die internationale englischsprachige Langfassung, einige wenige Szenen sind auf Spanisch. Der gesamte Film ist deutsch untertitelt.

Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Morphos Gesicht // entstellte Tochter // Bootsfahrt mit Sarg

Bewertung: (6,5/10)