Aelita - Der Flug zum Mars (OT: Aelita, Sowjetunion 1924, Regie: Jakov
Protasanov, SW)
Kritik: Der 1924 in der Sowjetunion erschienene Stummfilm „Aelita“ erzählt die Geschichte des Ingenieurs Losj gegen Ende der russischen Bürgerkriegszeit um 1921. Der Film besteht im Grunde aus zwei Handlungssträngen. Im ersten wird der von Elend und Armut bestimmte Moskauer Alltag gezeigt. Losj' Frau Natascha arbeitet am Kursker Bahnhof, der damals gleichzeitig ein Hospital und Durchgangsstation für Flüchtlinge, Deportierte und andere Kriegsopfer war. Wir lernen den korrupten Beamten Erlich kennen und noch einige andere Personen, die zum Teil von den guten alten Zeiten schwärmen. Der zweite Handlungsstrang besteht aus der Mars-Thematik. Gleich zu Beginn des Films erhalten Radiostationen in ganz Europa Signale mit den undechiffrierbaren Worten „Anta Odeli Uta“. Ingenieur Losj befasst sich näher mit den Signalen und vermutet, dass sie vom Mars kommen. Doch die Bedeutung der Worte kann auch er nicht entschlüsseln.
Er flüchtet sich aber von nun an zunehmend in Tagträume, in denen er Visionen vom Leben auf dem Mars hat. Er entwickelt unter anderem Pläne für den Bau einer Rakete. Die beiden Handlungsstränge werden zusammengeführt, als Losj im Eifersuchtswahn seine Frau erschießt. Er flieht an den Stadtrand von Moskau, wo er in eine Rakete steigt und zum Mars fliegt. Begleitet wird er von dem Rotarmisten Gussev, den die Tatenlosigkeit nach den Revolutionskriegen und seine Ehe langweilen, und einem Detektiv, der sich auf die Fersen des vermeintlichen Mörders gemacht hat und kurz vor dem Start in die Rakete gelangt ist. Auf dem Mars herrscht eine Art totalitäres Regime, Arbeitssklaven, die gerade nicht benötigt werden, lagert man dort eingefroren in Kühlhäusern. Losj verliebt sich in Aelita, die Königin vom Mars, während der Rotarmist eine Revolution anzettelt. Losj tötet Aelita später, weil diese sich zwar am Anfang auf die Seite der Aufständischen stellte, sich letztendlich aber doch als unverbesserliche Tyrannin entpuppte, die, um in realpolitischen Termini zu sprechen, nicht bereit war, den Schritt von der bürgerlichen (Marseillaise-Musik!) zur proletarischen Revolution zu vollziehen, sondern die Arbeiter weiterhin versklaven wollte. Als Losj auf der Erde aus seinen Tagträumen erwacht, entdeckt er, dass die Worte „ Anta Odeli Uta“ nichts anderes waren als Reklame für eine Handelsmarke. Es stellt sich heraus, dass er seine Frau nicht erschossen hat. Losj verbrennt seine Konstruktionsunterlagen für eine Rakete mit den Worten: „Genug geträumt, uns alle erwartet eine andere, richtige Arbeit.“ Mit diesem symbolischen Abschied von seinen phantastischen Tagträumereien endet der Film. Das Leben in Moskau ist nicht mehr so chaotisch wie am Anfang, Natascha arbeitet nun in einem Kinderheim und auch gegen die Korruption wurde etwas unternommen (der korrupte Beamte Erlich wurde festgenommen). Ein kommunistisches Happy End.
Der Film basiert auf der Novelle
„Aelita“ von Alexej Tolstoi (1883-1945). Tolstoi, der bei
Ausbruch der Oktoberrevolution den Zielen und Bestrebungen der neuen
Machthaber eher kritisch gegenüberstand, hatte seine Heimat
verlassen und war nach Westeuropa emigriert. Doch enttäuscht von den
Zuständen im Westen, der antisowjetischen Haltung vieler Emigranten
und getrieben von der Sehnsucht nach der Heimat, fasste er den
Entschluss, nach Russland zurückzukehren. In der sowjetischen
Botschaft in Berlin verfasste er 1921 den Marsroman „Aelita“. Der
Regisseur des Films, Jakov Protasanov, teilte ein ähnliches
Schicksal. Auch er war zunächst aus Russland emigriert (1918),
kehrte aber 1922 in die Sowjetunion zurück. Das Thema Emigration
kommt auch in dem Film selbst vor.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass
Protasanov im Westen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920)
gesehen hat. Die Kulissen auf dem Mars erinnern an die
expressionistischen Kulissen des Films von Robert Wiene, ergänzt
durch eine Melange aus Bauhaus, Kubismus und russischem
Konstruktivismus. Auch die ausgefeilten Werbestrategien für beide
Filme weisen Parallelen auf. Mit den Worten „Du musst Caligari
werden!“, die auf Werbeplakaten, Transparenten und Zeitschriften in
ganz Berlin zu lesen waren, ohne dass zu dem Zeitpunkt für die
Bevölkerung klar war, worum es sich eigentlich handelte, wurde für
den Film von Robert Wiene geschickt Werbung gemacht. „Aelita“
wurde Ende September 1924 im Moskauer Kino Ars (heute
Stanislawski-Theater) uraufgeführt. Die Werbung für den Film setzte
schon ein halbes Jahr vorher ein. Seit dem 26. Februar druckte die
Zeitschrift Kinogazeta die Worte „Anta Odeli Uta“ ohne
weitergehende Erläuterungen ab. Ausgabe für Ausgabe. Diese Worte
begegneten den Zeitgenossen bis kurz vor der Uraufführung immer
wieder, auf Plakaten, Zaunwänden oder Transparenten, die quer über
Straßen gespannt waren. Ab April wurden die drei Worte bisweilen
ergänzt durch den Satz: „Seit einiger Zeit empfangen
Radiostationen auf der ganzen Welt unbekannte Signale...“ Kurz vor
der Uraufführung druckte die Kinogazeta einen Text, der darüber
informierte, dass die Signale nun entschlüsselt seien. Die Auflösung
gäbe es im Kino Ars zu sehen. Kein Wunder, dass die erste
Science-Fiction-Großproduktion der Sowjetunion, das teuerste Projekt
des noch jungen sowjetischen Films, ein Megaerfolg wurde. Der
weibliche Vorname Aelita soll sogar bei jungen Eltern nach 1924
besonders beliebt gewesen sein.
Sowohl Roman als auch Film sind ein
offenes Bekenntnis zu den Zielen der Revolution und enthalten in dem
Sinne Elemente von Propaganda, allerdings noch nicht so dogmatisch
und schematisiert wie ab Anfang der 30er-Jahre (sozialistischer
Realismus). Rückblenden auf die gute alte Zeit, in der der Wein noch
nicht sauer schmeckte und Ordnung herrschte, enthalten deutliche
Seitenhiebe auf die im vorrevolutionären Russland herrschende
soziale Ungleichheit: Ein Mensch muss dem anderen die Schuhe putzen,
eine Gruppe auf dem Bürgersteig wird genötigt stehen zu bleiben, weil
Mitglieder der feinen Gesellschaft den Weg kreuzen. Realistisch wird
im Film aber auch der nachrevolutionäre Alltag gezeigt, der geprägt
ist von Lebensmittelkarten, Wohnungsnot, Korruption und Spekulation
sowie illegal veranstalteten Bällen für eine ausgesuchte
Gesellschaft.
Die Bedeutung des Films
ist, ähnlich wie sein Inhalt, auf zwei Ebenen angesiedelt. „Aelita“
ist ein wertvolles Zeitdokument und ein sehr genaues Alltagsporträt
Moskaus zur Zeit der „liberalen“ Neuen Ökonomischen Politik.
Protasanov, der gerne Spielfilmszenen mit dokumentarischen Aufnahmen
verband, zeigt uns auch hier zahlreiche authentische Aufnahmen von
Originalschauplätzen mit Statisten aus dem einfachen Volk. Unter
anderem sind Bilder einer Demonstration auf dem Roten Platz (ohne
Lenin-Mausoleum) zu sehen. Das Minin-und-Poscharski-Denkmal steht
dabei noch im Zentrum des Roten Platzes und nicht wie heute vor der
Basilius-Kathedrale, und der Rote Platz selbst ist noch nahezu
unbefestigt, mit Gras und Stroh bedeckt. Wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“
ist auch „Aelita“ ein Schlüsselfilm seiner Zeit, in dem sich
Historie und Entstehungsbedingungen gleich mehrfach spiegeln (Kunst,
Politik, Film). „Aelita“ erzählt die Geschichte seiner Zeit und
von Helden, die sich von ihrer Vergangenheit trennen und die neue
Wirklichkeit akzeptieren. Phantastische Träumereien werden
verworfen, stattdessen gilt es, sich an die wirklich wichtige Arbeit
zu machen, den Aufbau einer Utopie auf Erden. Filmhistorisch bedeutsam ist „Aelita“, weil es sich um einen der ersten Langfilme des
Science-Fiction-Genres überhaupt handelt und er mit seinen Dekors
und Kostümen die Vorstellung von futuristischen Gesellschaften
prägte. Allein wenn man sich die Folgen der einflussreichen
amerikanischen „Flash Gordon“-Serie aus den dreißiger Jahren
anschaut, wird man zahlreiche Ähnlichkeiten entdecken können. Und
glaubt man dem Eintrag in der russischsprachigen Wikipedia, dann
wurde auch einer der Väter der sowjetischen Kosmonautik, der
Raketenkonstrukteur Boris Tschertok (1912-2011), in seiner Biografie
wesentlich von dem Film „Aelita“ beeinflusst, weil er in ihm das
Interesse für Radiotechnologie, Fliegerei und Raumfahrt weckte.
„Aelita“ ist ein Stummfilmklassiker und
ein Meilenstein des Science-Fiction-Genres. Einer von den Filmen, bei
denen man froh sein kann, dass sie der Nachwelt erhalten geblieben
sind. Denn einige Jahre später kam der Film in der Sowjetunion auf
die Liste der verbotenen Werke. Das änderte sich erst mit Ende des
Kalten Krieges gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Die Schwäche des
Films, die allzu offensiv verkündete ideologische Botschaft, wird
allemal wettgemacht durch seine filmästhetischen Vorzüge. Er
überzeugt durch seine dokumentarischen Aufnahmen und die
überraschend genaue Darstellung des zeitgenössischen Moskau
einerseits, andererseits durch seine wegweisenden phantastischen
Bilder und Kulissen vom Mars. Diese stilistische Dichotomie von
Realismus und Phantastik gibt dem Film einen ganz besonderen Reiz.
Darüber hinaus sind die schauspielerischen Leistungen grandios. Der
Regisseur verpflichtete in erster Linie erfahrene
Theaterschauspieler, und um eine Schönheit für die Rolle der Aelita
zu finden, führte Protasanov ein mehrere Tage dauerndes Casting
durch. Unzählige Anwärterinnen sollen sich für die Rolle der
Marskönigin beworben haben, die letztendlich an die junge
Schauspielerin Julia Solnzewa vergeben wurde.
Bilder, die im Gedächtnis bleiben:
Parade auf dem Roten Platz // Aelita // Marsarbeiter auf Fließband
// Marsianer schauen durch Teleskop // Marskulissen // Revolution auf dem Mars
Bewertung: (9/10)